Leseprobe: Vorsicht, die Herdmanns schon wieder

Verlag Friedrich Oetinger 2010,

9,95 €

Liest man die Werbung für die „Herdmanns“, so erfährt man, dass es sich um ein Kultbuch handelt, vielfach übersetzt, der erste Band offenbar auch als Theaterstück erfolgreich.

Bei den Herdmanns handelt es sich um sechs Geschwister, die alle in dieselbe Schule gehen und bei Schülern, Lehrern und Eltern gleichermaßen gefürchtet sind. Sie stehlen, beißen, quälen ihre Mitschüler. Eugenia Herdmann geht in die Klasse der Ich-Erzählerin Lisa. Das Buch behandelt ein ganzes Schuljahr, Einzelepisoden aus diesem Schuljahr. In einer Episode stecken die Geschwister ihre eigene Katze in die Waschmaschine in einem öffentlichen Waschsalon, sorgen damit für eine Menge Aufruhr inklusive Feuerwehreinsatz. Eine (tote) Schlange im Klassenzimmer führt zu Turbulenzen. Und eine schulische Talentschau, bei der ein kleiner Junge Walnüsse knackt, indem er sich diese an den Kopf schlägt, sind weitere Folgen der Kreativität der schlimmsten Kinder aller Zeiten.

Frau Wendlaken fände es auch nicht gut, wenn Eu­gen mit Walnüssen jonglieren würde, erzählte Alice. »Falls er es wirklich kann«, sagte Alice und rümpfte die Nase. »Aber wahrscheinlich kann er es überhaupt nicht. «

Eugen versuchte es nicht einmal. Er kam auf die Büh­ne mit einer riesigen Schüssel Walnüsse im Arm und Mama stellte ihn vor. »Unser nächstes talentiertes Kind kommt aus der zweiten Klasse. Es ist Eugen Preston, und Eugen Preston wird nun -«

Mama konnte ihren Satz nicht zu Ende bringen, denn Eugen fing bereits an, sich Walnüsse an die Stirn zu hauen, eine nach der anderen, so schnell er konnte, und überall flogen die Schalen der geknackten Wal­nüsse durch die Gegend.

Die Leute, die hinten im Zuschauerraum saßen, konn­ten nicht sehen, was er da eigentlich machte, und die Leute, die vorn im Zuschauerraum saßen, wussten zwar, was er tat, konnten es aber nicht glauben. Der Schuldirektor, der ganz hinten in der letzten Reihe saß, dachte, irgendwelche Kinder würden Eugen mit Sachen bewerfen. Er lief daher durch den Gang nach vorn, wo er direkt mit Frau Preston zusammenstieß, die um Hilfe schrie - jemand solle Eugen davon ab­halten, bevor er sich noch mit den Walnüssen um­bringe.

Niemand hörte sie. Dafür war es einfach zu laut. Kinder sprangen wie wild geworden durch die Ge­gend, klatschten in die Hände und riefen: >>Los, Eu­gen! Los, Eugen!-, und brüllten: »Los, Hammerkopf! Los, Hammerkopf!- Bosse Fährmann fing an, die Nüsse zu zählen: »... zweiundzwanzig, dreiundzwan­zig, vierundzwanzig . . . «, und dann fingen alle an zu singen: »... sechsunddreißig, siebenunddreißig, acht­unddreißig ... « Bosse erzählte später, dass Frau Pre­ston in Ohnmacht fiel, als Eugen bei fünfundfünfzig Walnüssen war, aber sie fiel gar nicht wirklich in Ohnmacht. Sie ließ sich nur auf einen Stuhl sinken und murmelte irgendetwas von »verwirrtes Hirn«. Eugen verballerte all seine Walnüsse, dann stellte er die Schüssel auf der Bühne ab und ging. Er kam mir größer vor, doch das lag vielleicht auch nur daran, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben zu ihm aufsah.

Eugen bekam nicht den ersten Preis, aber Alice auch nicht. Ihr Klavierstück hieß »Fliegende Finger«, und es wäre bestimmt beeindruckend gewesen, wenn nicht so viele Walnussschalen zwischen den Klavier­tasten stecken geblieben wären, sodass sie immer wieder anhalten und von vorn anfangen musste. Eu­gen war ganz klar der Favorit, aber die Jury wollte wohl keinen »Verwirrtes-Hirn-Auftritt« belohnen, daher verlieh sie der Kindergarten-Rhythmusgruppe den ersten Preis. Das war wahrscheinlich die schlau­ste Idee überhaupt, denn alle Kindergartenmütter waren darüber sehr froh und keiner war sauer. Natürlich kamen jede Menge Kinder zu Eugen, die ihm sagten, dass er eigentlich hätte gewinnen müs­sen, dass er der Beste war, und sie wollten seinen Kopf anfassen.

»Knackst du Nüsse immer so?«, fragte jemand. Eu­gen schüttelte den Kopf und sagte, dass es Hedwig Herdmanns Idee gewesen sei.

»Warum das denn?«, fragte Charly. »Was hatte Hed­wig denn davon?«

Wenn man es nicht besser wüsste, hätte man denken können, dass Hedwig ein schlechtes Gewissen we­gen Eugens Hundehaarschnitt hatte, aber alle Schüler der Woodrow-Wilson-Schule wussten, dass das nicht stimmte. Und als wir uns unsere köstlichen Erfri­schungen abholen wollten, war niemand wirklich er­staunt, dass alles weg war.

Frau Grothe sollte eigentlich auf das Essen aufpas­sen, aber als Mama sie fragte, was passiert war, sagte sie: »Gerade als ich den letzten Teller Muffins auf den Tisch gestellt hatte, kam Hedwig Herdmann angelaufen und schrie, dass Eugen Preston verrückt geworden sei und versuche, sich umzubringen. Nun gut, normalerweise würde ich niemals glauben, was einer der Herdmanns mir erzählt, aber ich hörte ei­nen wahnsinnigen Krach im Zuschauerraum und Füße stampfen und Eugen! Eugen!<-Rufe, daher ging ich natürlich nachsehen, was da los war.« Sie zuckte die Schultern. »Ich weiß immer noch nicht, was mit Eugen passiert ist, aber ich weiß, was mit den Erfri­schungen passiert ist. «

Jeder wusste, was mit den Erfrischungen passiert war, nur hatte man wie immer keine Beweise, denn die Beweise waren weg, genau wie Hedwig.

Frau Wendlaken war anderer Meinung. Sie sagte, der Beweis sei Eugen. »Es ist doch ganz klar, dass Hedwig Herdmann den armen kleinen jungen dazu gebracht hat, sich mit seinen Nüssen k. o. zu schlagen, was dann natürlich für ziemliche Aufregung sorgte. Da­nach ist sie ans Büfett gelaufen und hat bis zum letz­ten Keks alles abgeräumt.­“( Seite 55 – 58)

Während des Aufruhrs, der durch diesen Auftritt entsteht, räumen die Herdmanns das Büfett ab und stehlen Kuchen, Kekse und Getränke. Die Herdmanns versetzen ihre leichtgläubigen Schulkameraden immer wieder in Angst und Schrecken. Sie behaupten, die fleischfressende Pflanze im Lehrerzimmer fräße auch kleine Schüler oder erzählen von den fürchterlichen Folgen eines Sehtests:  

»Wenn du es nicht richtig machst«, sagte Hedwig zu Leo, »heißt das, dass deine Augen falsch herum sit­zen. Dann müssen sie sie rausholen und andersrum wieder reinsetzen.­

Daraufhin war Leo so nervös, dass er das L nicht vom M und das X nicht vom K unterscheiden konnte, und als der Doktor sagte: »Nun gut, dann versuchen wir es mit dem anderen Auge«, brach er regelrecht zu­sammen und musste ins Krankenzimmer, wo er sich hinlegte, bis seine Mutter kam und ihn abholte.

Frau Vogel hatte nicht nur drei weitere Kinder und ein Baby, sondern sie war dazu auch noch Schulbusfah­rerin. Darum konnte sie nicht viel Zeit mit irgend­welchen hysterischen Anfällen von Leo verplempern. Aber Leo war so durch den Wind, dass er ihr nicht mal erzählen konnte, was passiert war - das Einzige, was er herausbrachte, war: „Herdmann.«

»Welcher? «, fragte Frau Vogel. »Welcher von ihnen war es? «, und Leo sagte, dass es Hedwig war.

»Und was hat sie getan? «, wollte die Krankenschwes­ter wissen. »Hedwig war doch gar nicht da.«

»Ich weiß es nicht«, sagte Frau Vogel. »Und ich kann hier auch nicht noch mehr Zeit vertrödeln, ich muss­te schon das Baby bei der Tupperware-Beraterin las­sen, und außerdem muss ich fast schon wieder los, zum Busfahren. Komm, Leo, Liebling ... « ( Seite 75)


Die Streiche erstrecken sich über das ganze Schuljahr, an dessen Ende eine Jahresaufgabe steht. Jeder Schüler muss sich für einen per Los gezogenen Mitschüler einige positive Eigenschaften ausdenken. Lisa, die Ich-Erzählerin erwischt Eugenia Herdmann. Lisa kommt mit Hilfe ihres Vaters auf „genialIch behielt Eugenia scharf im Auge, sodass ich es nicht verpassen würde, falls sie etwas Gutes tat, aber bei ihr war es wirklich schwierig, etwas Gutes zu fin­den.

Ich überlegte mir, dass es gut war, dass sie Nils Li­ckerts Kopf aus dem Fahrradständer befreit hatte, aber Frau Lickert war da anderer Meinung.

Frau Lickert meinte, die Herdmanns seien schuld gewesen. »Olli Herdmann hatte Nils gesagt, dass er es tun soll«, sagte sie. »Und danach hat Hedwig ihm solche Angst gemacht, dass er nicht allein wieder rauskam, und dann kam Eugenia vorbei ...«

Ich konnte verstehen, wie Nils seinen Kopf in den Fahrradständer bekommen hatte - er geht erst in die erste Klasse und dazu hat er auch noch einen sehr kleinen Kopf -, aber ich verstand zunächst nicht, wa­rum er ihn nicht wieder rausbekam.

Dann sah ich, warum. Es lag an seinen Ohren. Die Oh­ren von Nils standen gerade vom Kopf ab, wie Henkel an einem Becher, und nun waren sein Kopf und seine Ohren auf der einen Seite des Fahrradständers und der Rest von ihm war auf der anderen Seite. Und die Kinder drum herum brüllten ihn an, was er tun solle. »Du musst den Kopf drehen! «, meinte irgendjemand, und ein anderer sagte, er solle mit den Augen schie­len und dabei sein Gesicht zusammenquetschen.

Nils' Schwester Susi Lickert versuchte, seine Ohren zusammenzufalten und sie dann durchzuquetschen,

aber das ging nicht, noch nicht einmal eins nach dem anderen. Dann meinte sie, die Hälfte von uns sollte sich vor und die andere Hälfte hinter ihm aufstellen und dann gleichzeitig ziehen beziehungsweise schie­ben. »Irgendwie muss man ihn da doch wieder raus­kriegen.«

Ich dachte nicht, dass Schieben und Ziehen klappen würde, aber Nils sah so aus, als wäre er zu allem be­reit.

Hedwig Herdmann munterte ihn so richtig auf, als sie sagte: »Man wird deine Ohren abschneiden müs­sen, Nils. Vielleicht aber auch nur ein Ohr. Hast du denn ein Lieblingsohr? Auf dem du besonders gern hörst? «

Man sah, dass er ihr glaubte. Wenn du in die erste Klasse gehst und mit dem Kopf im Fahrradständer steckst, glaubst du einfach alles.

Einige Lehrer hörten Nils schreien: »Schneid mir nicht die Ohren ab! «, und sie liefen zu Herrn Zwack­baum und Herr Zwackbaum rief die Feuerwehr an. Eine Erzieherin aus dem Kindergarten streckte den Kopf aus dem Fenster und rief Nils zu: »Alles wird gut, sie kommen und schneiden dich da raus!-Aber sie sagte nicht, wer oder wie, und Hedwig erzählte ihm, sie würden wahrscheinlich ein kleines Stück vom Ohr übrig lassen, falls er später mal eine Brille tragen müsste. Nils war also vollkommen am Ende, als Eugenia auftauchte.

Sie wollte wissen, wie er da reingekommen war - wahrscheinlich für den Fall, dass sie einmal jemand anders in den Fahrradständer stecken wollte -, aber Nils war zu panisch, um überhaupt zu antworten, und keiner der anderen wusste es wirklich, daher entschied sie sich wohl dafür, ihn erst zu befreien und das dann später rauszufinden.

Eugenia klebte Nils' Ohren mit Tesafilm am Kopf fest und schmierte den Kopf mit Margarine aus der Kantine ein. Danach musste sie nur einmal auf sei­nen Kopf drücken - erst auf die eine und dann auf die andere Seite - und er rutschte durch.

Natürlich sah Nils ziemlich übel zugerichtet aus - er hatte Margarine in den Augen und in den Ohren und in der Nase, sodass Susi ihn nach Hause bringen musste. Er durfte ihr nicht zu nahe kommen, und sie sagte: »Wenn du Mama siehst, schreist du sofort: Al­les in Ordnung! Mir geht's gut!<« Sie sah ihn noch einmal an. »Und vielleicht solltest du ihr lieber auch sagen, wer du überhaupt bist.­

Frau Lickert sah ihn und fing trotzdem an zu schrei­en, und sie wäre beinahe in Ohnmacht gefallen, er­zählte Susi, wenn sie nicht Nils hätte rufen hören, dass alles in Ordnung sei.

»Was meinst du dazu?„, fragte Mama abends meinen Vater. »Sie hat ihm den Kopf mit Margarine einge­schmiert! «

»Ich finde, das war genial«, sagte mein Vater. »Eine Sauerei, aber genial. « ( S. 127 – 131)


Die Herdmanns haben Ähnlichkeit mit Max und Moritz, die ja auch nicht gerade zimperlich mit ihrer bürgerlichen Umwelt umgehen. Max und Moritz stehlen Hühner, sie jagen ihren Lehrer fast in die Luft ... Oder auch mit einigen der bösen  Buben im Struwwelpeter. Und eigentlich sind die Herdmanns Opfer ihrer Herkunft:

Manchmal sah man Frau Herdmann mit der Katze an der Leine spazieren gehen. Aber Frau Herdmann arbeitete zwei Schichten in der Schuhfabrik und war nicht viel zu Hause, und sie hatte nicht viel Zeit, mit der Katze durch die Gegend zu laufen.

Einen Herrn Herdmann gab es nicht. Die Leute sagten, nach Hedwigs Geburt sei er einfach auf einen Güterzug gesprungen und abgehauen. Einige mein­ten, er habe das sofort getan. Andere behaupteten, er wäre erst noch ein paar Jahre geblieben. ( Seite 14)

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