MordsMarathon

Leseprobe

Prolog

Es hat einen Toten gegeben. Beim Berlin Marathon. Kurz vor dem Ziel ist er zusammengebrochen. Vierundvierzig Jahre, Familienvater. Freizeitläufer. Stammtisch-Athlet. Einer, der wahrscheinlich zu ehrgeizig war. Nicht ausreichend trainiert hatte. Womöglich hatte er einen Herzfehler, den er schon jahrelang unerkannt mit sich herumtrug. Einmal dazugehören. Ein Marathonläufer sein. Ein Sieger. Wenigstens über sich selbst. Ich lache leise. Leider verloren. Idiot. Angewidert wechsle ich das Programm. Bombenanschlag in Kabul. Dort laufen sie nicht Marathon. Dort laufen sie um ihr Leben. Alte, Kinder, Frauen. Schuldig oder nicht. Danach fragen die Taliban nicht. Die US-Drohnen auch nicht. Ich zappe weiter. Die ARD bringt einen Hintergrundbericht über Todesfälle bei großen Sportveranstaltungen. Ein Psychologe schwafelt Unsinn, im Hintergrund eine Archivaufnahme: Boston 2013. Rauch auf der Straße. Schreiende Menschen in bunten Trikots. Sirenen. Das Bild wechselt. Eine gewaltige Menschenmasse setzt sich gerade in Bewegung. Eine Flutwelle aus Leibern schiebt sich durch die Straßenschluchten. Ich stelle mir vor, wie sie alle sterben. Mitten im Lauf zusammenbrechen, übereinander stürzen, zuckend verenden wie Heringe im Laderaum eines Fischerbootes. Ein kilometerlanger Teppich aus toten Läufern. Sie würden die Nationalgarde einsetzen müssen. Radlader. Kalk. Der Gestank des Todes würde durch die ganze Stadt ziehen. Mein linkes Augenlid flattert. Ein Tick. Euphorie breitet sich in meinem Kopf aus. Die Erregung treibt Schweiß auf meine Stirn. Es hat einen Toten gegeben. In Berlin. Es wird zehntausend Tote geben. In Mannheim …



1. Kapitel

Eine Hochzeit und ein Bräutigam verunglücken in einer einzigen Nacht. Ein Führerschein wird eingezogen und ein Ex-Alkoholiker macht eine Bergungsaktion im Regen.

L3110, Fahrtrichtung Lampertheim Samstag, 16.04.2016, 02.52 Uhr

„Die Nacht frisst mich auf.“ Er erschrak, als er seine heisere Stimme hörte. Er stemmte beide Hände gegen das dürre weiße Lenkrad, bog den Rücken durch und drückte sich in die Polster. Atmete einige Male bewusst ein und aus, um sein Gehirn mit mehr Sauerstoff zu versorgen. Die Nacht frisst mich auf … Dieser Satz kam aus den Tiefen seines Gedächtnisses, aus der Ecke, in der die Langzeiterinnerungen gespeichert wurden. Ein Satz, den er unzählige Male vor sich hin gemurmelt hatte. Vor über dreißig Jahren. Irgendwann waren die Worte da gewesen. Materialisiert jenseits des scharf abgegrenzten Bereichs, den die Scheinwerfer seines Lasters aus der Dunkelheit rissen. Die Nacht. Ein schwarzes Maul, in das er mit Vollgas hineinfuhr, um darin zu zerschellen. Zu sterben, eingebettet in 18 Tonnen Metall, zermalmt von der Ladung, verbrannt vom lodernden Dieselfeuer. Schreck! Schweißausbruch! Adrenalin tobte durch seine Blutgefäße. Sekundenschlaf! Der Mercedes war keinen Millimeter aus der Spur geraten. Glück gehabt! Guter alter SE. Pfeifend entließ der Fahrer die Luft aus seinen Lungen. Er sollte nicht mehr fahren. Schon lange nicht mehr. Er hätte überhaupt nicht einsteigen dürfen. Er schaute auf die Uhr am Armaturenbrett: gleich drei Uhr nachts. Seit fünf Stunden fuhr er nun schon ziellos durch die Gegend. Hatte auf dem Parkplatz eines Discounters versucht, Schlaf zu finden, bis der Lärm einer Gruppe angetrunkener Jugendlicher ihn vertrieben hatte. Schlaf hatte er eh keinen gefunden. Sein Tinnitus dröhnte, pfiff und rauschte wie ein Prüfstand für Strahltriebwerke. Das Singen des alten Sechszylinders und das Abrollgeräusch der großen Räder kompensierten es dann wieder einigermaßen. Radio blieb aus. Kassetten für das antike Becker-Radio hatte er keine und die krampfig-coolen Sprüche der Moderatoren verursachten bei ihm Übelkeit. Er hatte das dreieckige Ausstellfenster einen Spalt weit geöffnet. Nasse Straßenluft wehte herein. An den für heutige Verhältnisse winzigen Außenspiegeln waren weiße Bänder befestigt, die durchnässt und schmutzig im Fahrtwind flatterten. Die gepflegte Limousine mit dem H-Kennzeichen war ein Hochzeitsauto. War. Vergangenheit. Das Bukett auf der Motorhaube war schon vor zwei Stunden in der etwas zu schnell gefahrenen Auffahrt zur A6 weggeflogen. A6, Fahrtrichtung Süden. Warum? Wohin? Wo, zum Teufel noch mal, wollte er denn hin? Wohin will einer, der von seiner eigenen Hochzeitsfeier geflohen war? Geflohen. Buchstäblich. Karl und Rainer waren ihm noch nachgelaufen. Die standen mit der fetten Agnes draußen und rauchten, als er durch die Tür gestürzt war. Agnes war nicht gelaufen. Sie folgte ihrem urweiblichen Instinkt, trat ihre Kippe aus und ging schnurstracks nach drinnen, um bloß nichts zu verpassen. Ein Eklat! Und was für einer! Die Mutter aller Eklats. Jedenfalls was Hochzeitsfeiern betraf, da war er sich ziemlich sicher. Seit 27 Jahren waren sie ein Paar. Seit mindestens 20 Jahren verfolgte er das Ziel, sie zu heiraten.„Irgendwann“, hatte sie immer lachend geantwortet, „irgendwann, wenn sie uns ohne Ringe nicht ins Seniorenheim lassen, heiraten wir.“ Das mit dem Seniorenheim hatte sich zum Standardspruch entwickelt. Nicht nur bei ihr, sondern auch bei zahlreichen Freunden und Bekannten. Mike, der eine Schlosserwerkstatt betrieb, hatte unter dem Johlen und Applaudieren der Gäste einen breiten Zwillingsrollator in den Saal des Kleintierzuchtvereins geschoben, den sie für die Feier angemietet hatten. Sehr witzig. Seeeeehr witzig! Die Feier war gut. Laut, fröhlich, ausgelassen und mit den unvermeidlichen Einlagen besonders kreativer Gäste gewürzt. Das Essen von einem örtlichen Caterer mundete vorzüglich, das zweite Fass Bier war angestochen, man amüsierte sich prächtig. Als dann gegen 21.30 Uhr eine attraktive Frau mit einem mürrisch blickenden Teenager-Mädchen den Raum betrat, dachte jeder an verspätete Gäste. Neugierige Blicke, gepaart mit freundlichem Nicken, begrüßten die beiden. Braut und Bräutigam waren in ein angeregtes Gespräch mit einem älteren Paar an einem der Stehtische vertieft, als die Frau und ihre Kaugummi kauende Tochter sich zu ihnen gesellten.„Gratuliere deinem Vater zu seiner Hochzeit, mein Schatz“, sagte die Mutter. Nicht besonders laut, aber dennoch deutlich hörbar für alle Umstehenden. Der Stehtisch wurde zum Epizentrum für eine sich in konzentrischen Kreisen ausbreitende lähmende Stille, verbreitet durch gezischelte Wiederholungen der gesagten Ungeheuerlichkeit, bis im gesamten Saal nur noch gelegentliches Füßescharren und der ein oder andere theatralische Seufzer zu hören war. Durch eines der gekippten Fenster drang das weit entfernte Klagen eines Martinshorns wie eine zusätzliche Unterstreichung.Vierzehn Jahre! Vierzehn Jahre, in denen sich ihre Wege niemals wieder gekreuzt hatten. Vierzehn Jahre, in denen das, was damals war, von beiden als einmaliger Ausrutscher abgetan wurde. Angeblich lebte sie seitdem in London. War gerade auf dem Sprung dorthin, als ihre Wege sich kreuzten. Er hatte sie am Morgen danach noch zum Flughafen gebracht. „Bild’ dir bloß nichts ein“, hatte sie zu ihm gesagt, als er ihr die Frage nach dem Weiter stellte. Ihr schelmisches Lachen entschärfte den Spruch. „Die Zeit kommt, wenn sie kommt, mein Lieber“, hatte sie noch hinzugefügt und er spürte den Schmerz über die Trennung, aber gleichzeitig auch die Erleichterung, dass er nicht wählen musste. Dass alles so bleiben konnte, wie es war. Ein schöner Abend, eine atemberaubende Nacht. Was hatte er immer gespottet über derlei Seitensprünge. Wie hatte er die verachtet, die solche Spiele spielten. Aber dann war er machtlos. Willenlos. Sie hatte ihn angesprochen. Offen mit ihm geflirtet. Und dann war er plötzlich wieder sechzehn. Spürte, wie das Fieber von ihm Besitz ergriff, von dem er glaubte, es ein für alle Mal hinter sich zu haben. Er war auch so einer. Einer, der keine Chance hatte, gegen die Macht der Natur. Natur? Welch billige Ausrede! Er war einfach nur schwach. Ein Blatt im Wind. Brennend, zu Asche zerfallend, entfacht von verführerischen, vollen Lippen, die aus ihm eine Marionette machten, die hilflos an ihren Drähten zuckte, sabbernd und hechelnd wie ein Straßenköter. Ein Mann eben.Die Straße schwingt in sanften weiten Kurven durch die nasse Nacht. Kein anderes Fahrzeug weit und breit. Ab und zu ein vom Regen verwaschenes Licht in einem Aussiedlerhof. Schilder werben für landwirtschaftliche Erzeugnisse: Spargel, Erdbeeren, Rollrasen, Blumen zum Selberpflücken. Der Fahrer kannte die Gegend. In der wenige Kilometer entfernten Kleinstadt hatte er seine Kindheit und Jugend verbracht. Wehmut ergriff ihn. Sehnsucht nach der Geborgenheit und dem Schutz des Elternhauses. Seine Eltern: längst tot. Genau wie sein Hund, seine acht Stunden alte Ehe, sein bester Freund. Tot. Das Kreuz am Straßenrand war längst verwittert. Die mächtige Eiche im Scheitelpunkt der Kurve stand immer noch.Die Straße tauchte in den Staatsforst. Der Fahrer umklammerte das Lenkrad, als gälte es, eine üble Holperpiste zu bewältigen. Doch der Straßenbelag war glatt und schwarz. Eingerahmt und geteilt von gleißend weißen Linien. Der Motor summte, die Reifen zischten durch die Nässe. Warnschilder: Wildwechsel - Unfallstrecke - 70. Der Fahrer verstärkte den Druck aufs Gaspedal. Willig beschleunigte der schwere Wagen. Fernlicht. Weit voraus rotweiße Warntafeln. Sie sicherten die langgezogene Rechtskurve. Die Kurve, in der Willi damals mit seiner 750er rausflog. Willi. Der seitdem tot ist. Den sie nicht mehr wegen Fahrens ohne Führerschein drankriegen können. Oder wegen Verstoß gegen das Waffengesetz. Willi, der immer am lautesten lachte, wenn er am tiefsten in der Scheiße saß. Willi hatte es hinter sich. Dieses Scheißleben. Keine Sorgen mehr. Keine Probleme, keine Schulden. Kein Krebs. Das hatte keiner gewusst. Das mit dem Krebs. Seine Schwester hat es in der Clique ausgeplaudert. Bei der Obduktion hatten sie über zwei Promille Alkohol im Blut festgestellt. Und den Krebs. Fortgeschritten. Gestreut. Willi hatte den Schalter umgelegt. Engine stop. Aus. Hatte den Bullen, den Banken und dem Krebs den Stinkefinger unter die Nase gehalten. Mit mir nicht, ihr Ärsche. Cheerio! Das war sein Schlachtruf gewesen: Cheerio! Das hatten sie auch auf seinen Grabstein gemeißelt. Cheerio, Wild Willi.Die rotweißen Schilder flogen heran, wurden größer, greller.

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